Schon seit mehr als einem Monat hat der Winter die Kieler fest im Griff: Eisschollen schieben sich durch die Förde, die Forstbaumschule wird zur Rodelbahn, die Schlittschuhverkäufe schnellen in die Höhe und Fahrradfahrer kämpfen mit aufgeschütteten Schneebergen auf ihrer Spur. Mittlerweile hat man sich mit den eisigen Verhältnisse arrangiert; das tägliche Autokratzen und der Griff zu Mütze, Schal und Co. sind schon zur Routine geworden.
Doch Schildern zu begegnen, die vor „Lawinengefahr“ oder „Eiszapfen von oben“ warnen – da muss der Kieler doch schmunzeln, vermutet man solche Winterrisiken eher in alpinen Gefilden.
Das in den letzten Tagen einsetzende Tauwetter hat zwar so manchen Kältefeind aufatmen lassen, für die Feuerwehren und Dachdeckerfirmen in Kiel bedeutet der schmelzende Schnee jedoch Ausrücken im Akkord. Denn steigen die Temperaturen, werden die Schneemassen auf Dächern oder Eiszapfen unter Regenrinnen zur unterschätzten Falle. Daher sieht man vielerorts in der Kieler Innenstadt weiß-rote Bänder flattern, die abgesperrte Bereiche markieren.
Alles Gute kommt von oben – oder etwa nicht?
„Betreten verboten“ – wenn eine solche Warnung allerdings vor einer Bank zu lesen ist, im Portemonnaie aber gähnende Leere herrscht, begibt sich Mann oder Frau notgedrungen in die Gefahrenzone. Mareike, Studentin der Sozialpädagogik in Kiel, hätte es um Haaresbreite erwischt: „Ich wollte gerade durch die Schiebetür gehen, als direkt neben mir eine Lawine samt Eiszapfenhagel runterkam. Das Geld habe ich mir dann doch lieber an einem anderen Automaten geholt.“ Glück gehabt – und damit nicht doch noch ein Unglück geschieht, sollte man mit offenen Augen durch die Stadt spazieren. In brenzligen Situationen kann es nicht schaden, die Polizei zu rufen, zum Beispiel wenn Eiszapfen direkt über Gehwegen hängen, auf denen viele Passanten unterwegs sind. Um die Kollegen von der Feuerwehr zu entlasten, lassen sich die Freunde und Helfer sogar ungewöhnliche Mittel für die Eiszapfenbeseitigung einfallen.
Die Kielerin Julie ist unfreiwillig Zeugin eines solchen „Sondereinsatzkommandos" geworden: „Ich lag noch im Bett, als es plötzlich hartnäckig an der Haustür klingelte.“ Die Studentin öffnete noch etwas verschlafen und nichts ahnend die Tür – und vor ihr stand ein Polizist in voller Montur: „Mein erster Gedanke war: ‚Oh Gott, was hab ich angestellt?’ Doch als er mich höflich nach einem Besen fragte, war ich zwar verwirrt, aber erleichtert.“ Mit dem WG-Feger ausgerüstet, schwang sich der Polizist aus dem Fenster der Dachwohnung und entfernte mit vollem Körpereinsatz die langen Eiszapfen. „Irgendwie ja schade, in der Sonne haben die immer so schön geglitzert“, trauert die Bewohnerin den Eisgebilden hinterher. Doch leider ist es ja häufig so im Leben – nicht alles, was glänzt, ist Gold. Der nächste Frühling hingegen kommt gewiss.
Beke Sinjen