Ob Feuerspucken, Synchronschwimmen oder Marathon laufen – Redakteur Thore Albertsen tut das, was Sie sich wünschen. Dieses Mal wandelt er auf den Spuren des Balletttänzers Baryshnikov.
Ich bin ein Albatros. Zumindest fühle ich mich so, als ich in die riesige Spiegelwand des Ballettsaals blicke. Ein Albatros unter den zarten Schwänen der Mädchen von Ballett in Kiel. Dies ist eine Welt, die der Durchschnittsmann eher selten zu Gesicht bekommt. Zu stark sind die vorherrschenden Vorurteile gegen diese Sportart. Als zu weiblich und lächerlich oder „zu schwul“ wird er oftmals vor allem von Männern angesehen.
Auch ich bin nicht ganz befreit von diesen Vorurteilen. Die Angst, mich lächerlich zu machen und das auch noch auf Fotos festzuhalten, schwirrt durch meinen Kopf. Ich bin nervös. Bereits 20 Minuten zu früh tigere ich vor der Ballettschule am Anna-Pogwisch-Platz herum. Ich lenke mich ab, indem ich mich komplett durch Facebook scrolle. Übersprungshandlung. Dann stehen die Zeiger meiner Armbanduhr unbarmherzig auf sechs Uhr. Es wird Zeit, reinzugehen.
Im rötlich dekorierten Foyer erwartet mich der leise Klang von Pianomusik. Unverständliche Kommandos von einer weiblichen Stimme drängen sich zwischen die Harmonien. Claudia Ouzeroual, eine dunkelhaarige Frau mit einem strahlend weißen Lächeln, begrüßt mich und zeigt mir die Umkleidekabine. Ich darf mich bei den Lehrern umziehen, denn die anderen Umkleiden sind von den Ballerinas besetzt. Von 15 bis 21 Uhr werden in der Traditionsballettschule die unterschiedlichsten Klassen unterrichtet – von ganz kleinen Kindern bei der tänzerischen Früherziehung bis hin zu 60-jährigen Ballettanfängern ist alles dabei. „Ballett ist sehr gut für den Muskelaufbau, die Haltung, die Koordination und die Kondition. Also ein perfektes Ganzkörpertraining“, erklärt mir die 50-Jährige, die ich keinen Tag älter als 39 geschätzt hätte. Bereits seit 1992 betreibt sie die Ballettschule, die mittlerweile zu einer festen Institution in der Kieler Tanzwelt geworden ist und sich ständig erweitert.
Inhaberin von Ballett in Kiel, Claudia Ouzeroual, und Thore Albertsen
Ich ziehe mich um. Schwarze, enganliegende Trainingshose, weißes Shirt, graue Socken – Ballettschläppchen sind in meiner Größe gerade nicht vorhanden. In dem großen, hellen Saal dehnen sich die Mädchen an Holzstangen oder sitzen auf dem grauen Linoleumboden, ein schwarzes Piano thront in der Ecke. Viola Crocetti-Gottschall schwebt herein. Die ehemalige Profitänzerin hat bereits in den größten Opernhäusern Deutschlands getanzt, bevor sie sich entschloss, für die Liebe nach Kiel zu gehen. Ganz im schwarzen Dress lächelt sie mich herzlich an und steckt mich gleich zwischen die angehenden Prima-Ballerinas. Ich solle mir etwas abgucken, immerhin tanzen die Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren schon ihr halbes Leben. Die Mädchen gehören zur sogenannten Repertoire-Klasse, das heißt, sie werden aufgrund ihrer Begabung mehr gefördert.
Aufwärmtraining. Es geht an die Stange. Mit dem linken Arm festhalten, den rechten gerade halten. Viola macht die Übungen vor, wir machen sie nach: ein bisschen wie beim Aerobic, nur in elegant. Ein lang gezogenes „Plieeé“ ruft die 33-Jährige durch den Raum. Das bedeutet, dass wir mit gespreizten Beinen in die Hocke gehen sollen. Meine Sehnen kreischen bei jedem Vokal des Wortes, und ich merke, dass hier Muskeln sind, die ich länger nicht benutzt habe.
Balletttrainerin Viola Crocetti-Gottschall macht die Übungen vor
Die Übungen werden anstrengender und komplexer. Nach vorne beugen, kleine Sprünge aus dem Stand. Die Füße wechseln ständig die Position. Mit Mühe versuche ich mitzuhalten, fühle mich jedoch mehr, als würden meine Beine sich verknoten. Die übermächtige Spiegelwand habe ich dabei immer direkt vor mir, und sie verzeiht nichts. Ich hasse sie dafür. Ballett ist nun mal eine Kunstform, bei der es auf Nuancen und Bewegungen ankommt, Körperspannung und Timing. Da muss man wohl lernen, seinen eigenen Anblick zu ertragen. Die 33-jährige Trainerin scheint meinen Zwist mit dem Spiegel bemerkt zu haben und ruft mir aufmunternde Worte zu: „Am Anfang geht es erst einmal darum, Spaß zu haben, sieh das nicht zu verbissen.“ Noch circa fünf Minuten üben wir, dann kommt mein kleiner Höhepunkt.
In einer Dreier- und zwei Zweier-Gruppen sollen wir im Gleichschritt springen. Die Schrittfolge wird mir von Trainerin Viola vorher ganz genau erklärt. Dennoch kann ich sie mir nicht merken. Alle Augen sind auf uns gerichtet. Meine beiden Partnerinnen beherrschen diese Übung im Schlaf. Die Mädchen zeigen die Sprünge in perfekter Synchronität, strecken das Bein nach vorne, ziehen das hintere zum Knie, drehen sich. Ich stolpere hinterher und muss ein wenig über mich selbst lachen, als ich mich im Spiegel erblicke. Dick und Doof hätten ihre wahre Freude mit mir. Das Ganze wiederholen wir drei Mal. Diagonal durch den Tanzsaal. Kleine Schweißperlen beginnen sich auf meiner Stirn zu bilden, das Training hat’s in sich. Dennoch muss ich zugeben, es beginnt, mir wirklich Spaß zu machen. Ballett wäre mit seinen Dehnübungen und der Beanspruchung von Muskelgruppen, die ich vorher nicht kannte, eigentlich die perfekte Ergänzung zu meinem normalen Training.
Mit jeder Bewegung verschwindet ein kleines Stück meiner Vorurteile. Zumindest mental entwickle ich mich weg vom Albatros, hin zum Schwan … na ja, sagen wir mal lieber erst mal zum sterbenden Schwan…
Viola Crocetti-Gottschall zeigt die richtige Haltung
Weitere Infos zu Ballett in Kiel gibt es unter www.ballett-in-kiel.de oder Tel.: (0431) 631 65.
Fotos: Merle Primke