Wer erinnert sich heute noch daran? Hier in Kiel im November 1918 entzündete der Matrosenaufstand das Feuer der Revolution in Deutschland. Das war das Ende für Weltkrieg und Kaiserreich, der Beginn von Frieden und Demokratie. An dieses bedeutende Ereignis deutscher Geschichte erinnerte die Stadt Kiel am Freitagabend in der Bahnhofsnordhalle mit einer Gedenkveranstaltung.
Dem Gewicht der Ereignisse gemäß, trugen prämierte Kieler Kunst- wie Musikschaffende mit ihren Beiträgen zum Gedenken bei. „Study for Revolution 18“ chiffrierte der bekannte Videokünstler und Gottfried-Brockmann-Preisträger Kai Zimmer seinen Beitrag zur Gedenkveranstaltung unter dem Motto „Vom Aufstand zur Demokratie“. Sechs Beamer projizierten alte Fotos und Postkarten sowie aktuelle Stadtansichten an die Kuppeldecke der Bahnhofsnordhalle. Unter diesem Dach der Assoziationen hatte sich auf der Treppe der Madrigalchor Kiel platziert. Geleitet von Friederike Woebcken (Kulturpreisträgerin der Stadt Kiel 2002) sang er unter anderem das „Matrosenlied“ und „Die Gedanken sind frei“.
Es war die Lesung aus dem Tagebuch eines unbekannten Werftarbeiters, mit welcher der Schauspieler Eirik Behrendt uns die angespannten und blutigen Ereignisse der Woche von Montag, dem 4., bis Freitag, den 8. November 1918, vor Augen brachte. Die Matrosen weigerten sich in einer sinnlosen letzten Seeschlacht „heroisch“ Tod und Untergang zu finden, wie es ihre nationalistisch gesinnten Offiziere verlangten. Nach Protestmärschen kam es zu Schießereien mit kaisertreuen Truppen. Die hungernden Werftarbeiter demonstrierten für Brot und Marmelade, sie unterstützten die Marinesoldaten mit einem Generalstreik. Der unbekannte Werftarbeiter notierte: Dienstag, 5. November, am Wilhelmplatz wird geschossen, ein Kreuzer hat alle Geschütze auf den Bahnhof gerichtet, es ist kalt, trüb und feucht.
Vom Aufstand zu Demokratie
Am Bahnhof gab es das erste Opfer. Eine junge Frau fiel in dem Gedränge unter eine Straßenbahn und kam zu Tode. Die Kieler Stadtpräsidentin Cathy Kietzer erinnerte in ihrer einleitenden Ansprache an diese unglückliche junge Frau. Es dürfe nicht vergessen werden, so die Stadtpräsidentin, dass die Matrosen und Arbeiter unter Einsatz ihres Lebens für all jene Freiheiten und Rechte kämpften, die wir heute wie selbstverständlich genießen können. Die Aufständischen seien Teil der Seele unserer Stadt. Sie verstehe kaum, dass es viel zu lange gebraucht habe, um dieses welthistorische Ereignis des Kieler Matrosenaufstandes hier vor Ort angemessen zu würdigen.
Tatsächlich war es Kiel, von wo aus die Glut der Revolution zu einem reichsweiten Feuer entbrannte. In vielen Städten Deutschlands wurden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet. Am 9. November 1918 verkündete Philipp Scheidemann (SPD) die Deutsche Republik, am 10. November floh Kaiser Wilhelm II. in die neutralen Niederlande und am 11. November wurde der Waffenstillstand an der Westfront unterzeichnet. Die folgenden Monate und Jahre waren nicht immer friedlich. Der Krieg jedoch, das sinnlose Sterben hatte ein Ende. Der Weg war frei für die erste deutschlandweite Republik mit allen staatsbürgerlichen Freiheiten und Rechten.
Eine Frage der angemessenen Erinnerung
Seit einiger Zeit gibt es den Vorschlag des Kieler Kulturdezernenten Gert Meyer (CDU), den wasserseitigen Bahnhofsplatz in Erinnerung an den Matrosenaufstand zu benennen, zum Beispiel „Platz der Kieler Matrosen“. Hierüber gibt es jedoch eine heftige Kontroverse, die im November bereits auf zwei Ratsversammlungen ausgetragen wurde. Während CDU und FDP sich gegen eine solche Benennung aussprechen und unter anderem auf ein ablehnendes Votum des Ortsbeirates verweisen, befürworten SPD, Grüne und Linke die Benennung zum Gedenken an den Matrosenaufstand. Letztere betonen seine entscheidende Bedeutung bei der Wegbereitung für den Aufbau der Demokratie in Deutschland. Es mag in diesem Zusammenhang interessieren, dass die Bahnhofstreppe, welche in den wasserseitigen Bahnhofsvorplatz hineinführt, als „Kaisertreppe“ bekannt ist. Die Erinnerung an Monarchie und Unfreiheit ruft bisher keinerlei Kontroversen hervor.
Jörg Ludolph