Traumhaft schöne Chorszenen, ein imposantes Bühnenbild und die Sehnsucht nach Freiheit: Giuseppe Verdis Nabucco hielt am Samstagabend als vierte Open-Air-Produktion des Theaters Kiel Einzug auf dem Rathausplatz. „Va, pensiero, sull’ ali dorate“ (Flieg’, Gedanke, auf goldenen Flügeln), so klang es in den 1.320 Premierengästen und den rund 11.000 Opernbesuchern bei den Live-Übertragungen am Bootshafen, Blücher- und Vineta-Platz und in Mettenhof nach. Sicherlich entschwand dabei manch kühner Gedanke auf goldenen Schwingen in den Kieler Sternenhimmel.
Die mächtigen Ziegel des monumental nachempfundenen Ischtar-Tores erstrahlen in herrschaftlich-babylonischem Blau. An ihnen hat sich diagonal eine überdimensionale, goldene Pergamentrolle entblättert – die Heilige Schrift der Hebräer. Diese wird mit der Gefangenschaft eines ganzen Volkes effektvoll zerbrechen und sich erst am Ende der Oper mit der wiedergewonnenen Freiheit zusammenfügen.
Ein ganzes Volk gibt die Hoffnung auf Freiheit nicht auf
Völlig verängstigt suchen die Hebräer Zuflucht im Tempel. Sie drängen sich dicht an dicht, werfen sich auf den Boden und beten. Draußen, vor den Toren Jerusalems wütet der babylonische König Nabucco (Dario Solari) mit seinen Truppen, wild entschlossen die Stadt für sich einzunehmen. Zaccaria, der Hohepriester der Hebräer (Mattia Denti), versucht seine Landsleute zu beruhigen, denn in seiner Hand befindet sich Fenena (Cristina Melis), die Zweitgeborene und Lieblingstochter des Besatzers Nabucco. Fenena liebt den Hebräer Ismaele (Yoonki Baek), doch auch ihre Schwester Abigaille (vermeintliche, erstgeborene Tochter Nabuccos: Alessandra Gioia) findet Gefallen an ihm.
Alessandra Gioia brilliert als Abigaille
Kaum zu glauben, dass die italienische Sopranistin Alessandra Gioia, die für ihre Rolle einen riesigen Stimmumfang an den Abend legt, die machthungrige Abigaille in Kiel zum ersten Mal singt. Faszinierend wie es ihr gelingt, den sehr dramatischen Ausbrüchen ihrer Partie mit aller Aggressivität Ausdruck zu verleihen. Denn um den Thron zu besteigen, nimmt sie sowohl den Tod ihres Vaters als auch ihrer Schwester Fenena in Kauf. Erst recht nachdem sie erfahren hat, dass sie das Kind einer Sklavin ist. Und auch den Qualen der Liebe versucht sie mit Rachegelüsten zu begegnen. Doch bevor sie im Blutrausch droht, alles niederzumetzeln, um damit den Verlust des Geliebten Ismaele und des familiären Halts zu betäuben, hält sie einen Augenblick inne. Wie ein kleines Mädchen sitzt sie nun mit baumelnden Beinen auf den Treppenstufen und aus ihrem Herzen fließen in schönstem Belcanto leise Töne voller Wärme und Sanftmut.
Nabucco zwischen Machtstreben und Vaterliebe
Der aus Uruguay stammende Bariton Dario Solari verkörpert Nabucco mit souveräner Männlichkeit. Kraftstrotzend zerreißt er die goldene Schriftrolle, greift nach der Krone des eroberten Landes und erklärt sich kurzerhand im Wahn selbst zum einzig wahren Gott. Als ihm dann die Krone von unsichtbarer Hand entrissen wird und seiner Tochter Fenena die Hinrichtung droht, erwacht stimmlich auch die Sensibilität für gebrochene Zwischentöne zum Leben, die seiner Vaterliebe noch mehr Intensität verleihen.
Die Sängerriege
Nabuccos Gegenspieler Zaccaria, der geistig-moralische Führer der Hebräer, gesungen von Mattia Denti, verkörpert seine Rolle mit autoritär aufloderndem Bass. Er stachelt die Hebräer immer wieder zum Widerstand an und prophezeit die baldige Befreiung und das Ende Babylons. Das Liebespaar Fenena (Cristina Melis) und Ismaele (Yoonki Baek) geben sich trotz aller politischer und religiöser Zwänge zart-schwärmerisch ihrer „beschützenden Liebe“ hin.
Bewegende Inszenierung des Gefangenenchores
Obwohl sich zeitweise mehr als 100 Akteure auf der Bühne tummeln, gelingt es dem Regisseur Olaf Strieb, die Handlung für den Zuschauer immer transparent zu halten. Dabei hat auch das schlüssige Farbkonzept – blaue Uniformen für die Babylonier; biblisch angehauchte weiß-beige Stoffe für die Hebräer – strukturierenden Anteil.
Zweifellos das schönste Bild des Abends sowie den höchsten Gänsehaut-Faktor bietet aber der Gefangenenchor (Opernchor und Extrachor des Theaters Kiel unter der Leitung von Lam Tran Dinh). Wie auf Leinwand gebannt, stehen und knien die Hebräer hinter den Lanzen ihrer Peiniger und singen sich mit herzzerreißendem Schmelz die Sehnsucht nach Freiheit von der Seele.
Zu guter Letzt bringt der italienische Gastdirigent und Komponist Francesco Cilluffo eine Menge Verdi-Erfahrung mit ins transparente Zelt und sorgt zusammen mit dem Philharmonischen Orchester Kiel für das richtige Maß an „Italianitá“.
Nach begeistertem Applaus und lauten Bravo-Rufen, zusammen mit einem von der hohen Zuschauerzahl sichtlich überwältigten Daniel Karasek, pulsierte das Premierenfeuerwerk abschließend ebenso wie Verdis Musik.
Weitere Aufführungen täglich vom 25.–30. August um 20 Uhr, Karten gibt es unter Tel.: (0431) 90 19 01 oder unter www.theater-kiel.de