Viele Säuglinge leiden in den ersten drei Monaten unter unstillbaren Schreiattacken. Die meisten Eltern von sogenannten Schreibabys glauben, sie müssten diese Situation aushalten, doch Schreiambulanzen bieten Unterstützung.
Es ist 3 Uhr nachts. Leander schreit wie am Spieß – und das schon seit Stunden. Nichts kann den Säugling beruhigen. Weder Stillen noch Streicheln, weder sanftes Hin- und Herschaukeln noch Einschlafmusik. Stefanie L. ist verzweifelt. Leander ist ihr erstes Kind, und sie hat noch keine Erfahrungen.
Acht Wochen nach der Geburt kamen der 30-Jährigen erste Zweifel: Ist es wirklich normal, dass mein Kind so viel schreit? Nach einer gründlichen Untersuchung beim Kinderarzt konnten körperliche Ursachen ausgeschlossen werden. Der Rat des Arztes: „Das müssen Sie einfach eine Weile aushalten.“ Doch das Schreien wurde immer massiver. Oft brüllte der Kleine bis zu acht Stunden am Tag und in der Nacht. Ein unerträglicher Zustand. „Ich hatte die Befürchtung, dass Leander ein Schreibaby ist, wollte es mir aber nicht eingestehen“, gibt Stefanie L. zu. Doch der Besuch in der Schreiambulanz Kiel brachte schließlich die Gewissheit.
Leander ist kein Einzelfall. Etwa 20 Prozent aller gesunden Säuglinge leiden an unstillbaren Schreiattacken. Viele Eltern glauben, dass organische Erkrankungen oder die Drei-Monats-Koliken, starke Blähungen, daran Schuld sind. Doch das Schreien hat andere Gründe, wie auch Stefanie L. in der 2004 gegründeten Schreiambulanz erfuhr. „Ein Schreibaby hat Anpassungs- und Regulationsstörungen“, erklärt die 43-jährige Diplom-Psychologin Lidija Baumann, die neben ihrer Kollegin Brigitte Linke als Fachberaterin in der Schreiambulanz tätig ist. „Es kommt mit der Welt nicht zurecht und ist durch innere Reize, wie Hunger oder Müdigkeit, und äußere Reize, wie bestimmte Geräusche, schnell überfordert.“
Überfordert sind auch die meisten Eltern, was häufig zu hilflosen Reaktionen führt. „Ich wusste nicht mehr, was ich tun soll“, gesteht Stefanie L. „Ich habe wirklich alles ausprobiert, damit Leander aufhört zu schreien: von Wippen auf dem Gymnastikball über Staub saugen bis hin zu Auto fahren. Aber das hat nur kurzfristig funktioniert.“ Hinzu kommt das Unverständnis von außen. Wenn ein Baby schreit, werden automatisch die Eltern verantwortlich gemacht. „Ich hatte große Schuldgefühle“, berichtet die junge Mutter. Hilfe erfuhr sie erst in der Schreiambulanz, wo jährlich 70 bis 80 betroffene Familien betreut werden.
„Bei uns merken Eltern endlich, dass sie nicht allein sind und man etwas gegen das Schreien tun kann“, sagt Lidija Baumann. „Beim Großteil der Babys ist Reizarmut der Schlüssel zum Erfolg.“ So auch bei Leander: Stefanie L. musste lernen, ruhig und gelassen zu bleiben, anstatt viele verschiedene Methoden in kurzer Zeit hintereinander auszuprobieren. Wenn das Baby schreit, gilt: durch Ruhe beruhigen. Je langweiliger der Alltag, desto besser. Keine Ausflüge, kein Besuch. Seitdem läuft alles besser. „Der Kleine schreit deutlich weniger als vorher“, erzählt Stefanie L. „Frau Baumann hat mich in meiner Rolle als Mutter gestärkt und mir geholfen, Leander so anzunehmen, wie er ist.“ Die gute Nachricht für alle Eltern von Schreibabys: Das Schreien ist nur ein vorübergehender Ausdruck von Lern- und Reifungsprozessen. Meist kehrt nach der zwölften bis 14. Lebenswoche wieder Ruhe ins Kinderzimmer und in die Familie ein.
Ist mein Baby ein Schreibaby?
Die Faustformel lautet: Ein Baby schreit besonders viel, wenn es mindestens drei Stunden täglich, an mindestens drei Tagen der Woche mindestens drei Wochen hintereinander schreit. Wenn dieses Verhalten auf Ihr Baby zutrifft, dann sollten Sie Hilfe in Anspruch nehmen.
Kontakt
Lautstark – Ambulanz für Schreibabys
Städtisches Krankenhaus
Räume der Kinder- und Jugendmedizin
Chemnitzstr. 33, Kiel
Tel.: 0151/16 32 20 00 (telefonische Sprechstunde: Di 12–13 Uhr, oder sprechen Sie auf die Mailbox, Sie bekommen in jedem Fall einen Rückruf)
www.schreibaby-kiel.de
Die Schreiambulanz Kiel wird durch Spenden finanziert.
Spendenkonto: BBBank, Konto 97 02 39, BLZ 660 908 00