Sechs Spiele hat Holstein Kiel noch Gelegenheit, sieben Punkte gut zu machen, um noch die Sensation Klassenerhalt zu schaffen. Nach verbesserten Leistungen kam zuletzt zu eigenen Fehlerketten auch noch fehlerhafte Schiedsrichterentscheidungen hinzu. Grund genug, mit Wut im Bauch nach Aue zu fahren, um dort gegen die Mannschaft der Stunde einen Überraschungscoup zu landen.
Nach dem 2:2-Unentschieden und dem Gegentreffer in letzter Minute ließen die Holstein-Akteure im Kabinengang ihren Emotionen freien Lauf.
Einige gingen kopfschüttelnd, erste Worte nach der Last-Minute-Punkteverlust ablehnend, an den Journalisten vorbei, brüllten darauf ihren Frust laut heraus, schlugen ihre ausgezogenen Schuhe gegen die Wand oder knallten mit der Faust gegen Türen. Der Wut über das eigene Unvermögen, in der 90. Minute erneut das eine Mal durch eine kollektive Unkonzentriertheit das unerwartete Ausgleichstor kassiert zu haben, war riesig.
„Wo wir schon länger sein wollten.“
Zwei Tage später sieht die Lage wieder anders aus. Beim Training wird geflachst, sich gegenseitig aufgezogen, es herrscht eine entspannte Atmosphäre. Die Spieler scheinen den Ärger verarbeitet zu haben. Trainer Christian Wück bezeichnet die Mannschaftsstimmung mit „Jetzt erst recht“. Es wirkt tatsächlich so, als seien die Störche aus den beiden letzten Unentschieden mit erhobenen Köpfen hinausgegangen. Spielerische Verbesserungen waren erkennbar, eine stabile Innenverteidigung mit Rohwer und Schyrba, Robert Müller als effektivem Abräumer und davor Fiete Sykora als immer wieder geschickter Ballverteiler auf die lauffreudigen Spieler Heider, Cannizzaro, Sembolo oder Siedschlag. Die gegnerischen Viererketten wurden in den vergangenen Spielen wieder häufiger unter Druck gesetzt. „Jeder merkt, dass wir leider erst jetzt dahin kommen, wo wir eigentlich schon länger sein wollten – mit mehr Sicherheit im spielerischen Bereich. Jetzt läuft uns die Zeit davon“, beschreibt Trainer Christian Wück das KSV-Dilemma.
Glück fehlt zum Erfolg
Doch die Beständigkeit über 90 Minuten fehlte auch im 32. Spiel der Saison bis zuletzt. Also doch kein Aufwärtstrend? Würde man die Lage mit Argwohn betrachten, könnte man auch der Ansicht sein, Holstein Kiel habe jetzt ohnehin nichts mehr zu verlieren, könne befreit aufspielen und eventuell irgendwie doch noch die Sensation erreichen. Der Abstieg ist so gut wie sicher. Würde man tatsächlich noch den Klassenerhalt schaffen, ginge man überspitzt formuliert als Held in die Kieler Geschichtsbücher ein. Stünde der Abstieg nach dem 35. Saisonspiel fest, hatte ja ohnehin jeder damit gerechnet. Für die Lösung zwischen Aufwärtstrend und Argwohn gibt es nur eine Lösung: Erfolg, oder was nach Trainer Christian Wück derzeit dazu fehlt: Glück. „Wenn man im Tabellenkeller steht, hat man einfach häufig das Glück nicht. Da kommt alles zusammen: individuelle Defensivfehler, ungenutzte Torchancen und eine schlechte Schiedsrichterleistung. Das Einzige was uns da bleibt, ist das Glück zu erzwingen.“
Erzgebirge Aue im Aufstiegsrausch
Exakt umgekehrt ist die Stimmung beim Tabellenzweiten in Aue: Am vergangenen Wochenende den Tabellenführer mit 3:0 nach Hause geschickt, neun Punkte aus den letzten drei Spielen eingefahren, und fünf Spieltage vor Saisonende einen möglichen Aufstieg in die 2. Bundesliga unmittelbar vor Augen. „Erzgebirge Aue hat im Moment einen Lauf. Sie treten voller Selbstbewusstsein auf, spielen nicht mehr so viele lange Bälle wie in der Hinrunde, sondern nutzen ihre Spielstärke mit fußballerisch sehr guten Spielern wie Curri aus und haben derzeit mit Agyemang einen schnellen Stürmer, der aus allen Lagen trifft“, bewertet Christian Wück die Stärken der Erzgebirgler, die er am Mittwoch-Abend beim 1:3-Auswärtserfolg in Dortmund begutachtet hatte. Hinzu kommt der Hexenkessel Erzgebirgsstadion, in dem wiederholt mindestens 10.000 Zuschauer die Lila-Weißen nach vorne peitschen werden. „Es wird unheimlich schwer. Aber wir können eine Überraschung schaffen“, hofft Christian Wück.
Ohne Schulz und Lamprecht
Die Ausgangslage könnte besser sein: Nachdem Christian Wück zuletzt erstmals seit dem 18. Spieltag in zwei aufeinanderfolgenden Spielen mit der gleichen Anfangself begann, wird der Cheftrainer zwei Änderungen vornehmen müssen. Kevin Schulz erhielt gegen Bayern seine fünfte gelbe Karte, Christian Jürgensen fällt mit einer schweren Prellung zumindest bis zum Braunschweig-Spiel aus. Zusätzlich kommt ein Einsatz für Dimitrijus Guscinas nach überstandenem Magen-Darm-Virus zu früh. Ein Einsatz von Florian Meyer hielt sich der Trainer mit Blick auf das morgige Training offen. Mit im Bus nach Aue wird nach abgelegtem schriftlichen Abitur auf jeden Fall Fynn Gutzeit sitzen, der als einzige Linksfußoption für den linken Defensivspieler in der Viererkette die optimale Lösung wäre. Ob Trainer Wück den 19-jährigen in solch einer hitzigen Stadion-Atmosphäre von Beginn an ins kalte Wasser werfen wird, scheint unwahrscheinlich. Wer letztendlich in der Startaufstellung ist, ist ohnehin zweitrangig, Hauptsache Moral, Wille und Einsatz stimmen wieder von Beginn an: „Ich hoffe, dass sich die Wut aus dem letzten Spiel in positive Energie umwandelt und sich die Spieler an die guten Szenen aus dem letzten Spiel erinnern, dann ist alles drin. Jedes Spiel wird bei 0:0 angepfiffen“, erklärt der Trainer.
Voraussichtliche Aufstellung:
Frech – Lamprecht, Boy, Schyrba, Rohwer – Müller – Siedschlag, Sykora, Heider – Sembolo, Cannizzaro.
Anstoß ist am Samstag um 14 Uhr im Erzgebirgsstadion in Aue.
Ach, da war ja aber noch etwas: Im kicker-Interview wurde Christian Wück mit der Antwort auf die Frage: „Haben Sie Fehler gemacht?“ mit „nein.“ zitiert. Dies stellte der Übungsleiter im heutigen Pressegespräch noch einmal richtig: „Ich bin keiner, der sagt, ich mache keine Fehler. Das ist im Interview nicht richtig wiedergeben worden. Es gibt mit Sicherheit Situationen, die ich im Nachhinein anders entscheiden würde. Stichwort Francky Sembolo. Es gab damals Beweggründe Francky in die zweite Mannschaft zu stellen, da der Kader durch die zwei Neuzugänge aufgebläht war. So wie sich Francky jetzt präsentiert hat, hätte ich ihn aber früher zurückholen sollen.“