Konträrer hätte die Reaktion des Publikums nach der Uraufführung von „11°, windstill“ am vergangenen Samstag nicht ausfallen können: Hin und her gerissen zwischen frenetischem Applaus und lautstarken Buhrufen verließen die Zuschauer vor allem nachdenklich das Kieler Schauspielhaus.
Nach „Schonzeit“, das in der Spielzeit 2006/07 in einer Lagerhalle am Nord-Ostseekanal uraufgeführt wurde, schrieb die Schweizer Bühnenautorin und Theaterregisseurin Sabine Harbeke mit „11°, windstill“ bereits zum zweiten Mal ein Stück im Auftrag des Schauspiel Kiel, das wiederum von ihr selbst
inszeniert wurde. Es handelt sich dabei um die Fortsetzung von „Schonzeit“ und Teil 2 der „Nördlichen Trilogie des Glücks“.
Bekannte Charaktere kehren auf die Bühne zurück, neue Figuren und Schicksale kreuzen ihren Weg: In einer tristen, nicht sehr zukunftsträchtigen Stadt am Meer treffen sich alle tagaus, tagein an Giselas (Ksch. Almuth Schmidt) Kiosk, den sie eigentlich schon längst an Gudrun (Agnes Richter) übergeben hat. Aber Veränderungen sind hier schwer durchzusetzen. Uwe (Marko Gebbert) hat schon länger ein Auge auf Gudrun geworfen, Heinz (Werner Klockow) kämpft um die Männerfreundschaft zu ihm. Mit dem jungen Paar Jakob (Gerrit Frers) und Ina (Jennifer Böhm) kommt Bewegung in die Gruppe. Die beiden versuchen den Ausbruch in ein neues Leben und stellen somit die Einrichtung im gewohnten Alltag in Frage. Gisela wird hingegen von ihrer Vergangenheit eingeholt: Ihr verhasster Sohn Jürgen (Imanuel Humm) taucht plötzlich ohne Vorwarnung auf, allerdings begleitet von seinem Bekannten Wilfried (Rainer Jordan), der in der schwerkranken Kioskbesitzerin nicht mehr erwartetet Frühlingsgefühle weckt.
Peter Waldner gelingt es, die Trostlosigkeit der Stadt sowie die beklemmende Stimmung durch sein Bühnenbild zu transportieren: Im Hintergrund ragt eine Hotelfassade empor, wo hinter anonymen Gardinen namenlose Menschen die Zeit bis zur Weiterreise überbrücken. Im Vordergrund eine Anlegestelle und das offene Meer, ganz an den Rand der Bühne gedrängt Giselas Kiosk. Es gibt nur einen Ausweg aus dieser Stadt: die Fähre. Und genau die haben Jakob und Ina verpasst. Sie wollten endlich den Schritt wagen und zu neuen Ufern aufbrechen, doch nun sind sie in diesem tristen Ort gefangen – ohne Geld und Zukunftsperspektive. In Giselas Kiosk treffen sie auf Menschen, die genau wie sie weder bleiben wollen noch gehen können.
Außergewöhnlich ist die Erzählweise des Stückes: Die Zeiträume springen von der Gegenwart in die Zukunft, in die Vergangenheit. Wider Erwarten irritieren die vielen Sprünge den Zuschauer nicht – im Gegenteil: Man begreift sehr schnell, in welchem Zeitraum sich die Figuren gerade befinden, das Stück wird dadurch lebendig und interessant. Was den Zuschauer allerdings mitunter irritiert, sind die Visionen und „Ticks“ der Charaktere: Da wäre zum Beispiel Gudrun, die aus scheinbar unerfindlichen Gründen permanent in Ohnmacht fällt. Ina, die in jeder schwierigen Situation verstört im Kreis rennt. Oder Jakob, der meint, den Tod von Menschen voraussehen zu können, den diese „Gabe“ aber in die Verzweiflung treibt. Uwe flippt in seiner Mord-und-Todschlag-Vision – inklusive Fischregen – auf der Bühne völlig aus. Heinz sieht plötzlich ein Meer von Flamingos im Hafen … Tolle schauspielerische Leistungen, doch nicht jeder Zuschauer konnte am Premierenabend mit diesen abgedrehten Visionen etwas anfangen, bei der Flamingo-Szene verließ sogar ein Paar den Raum.
Außerdem ist es teilweise schwierig, das Stück ohne Vorkenntnis von „Schonzeit“ zu begreifen. Man erfährt weder, was zwischen Gisela und ihrem Sohn, die sich abgrundtief hassen, vorgefallen ist noch warum Jürgen im Rollstuhl sitzt. Hätte man die Vorgeschichte einiger Charaktere gekannt, hätte man ihre „Ticks“ vielleicht auch besser verstehen können.
So verließen nach der Vorstellung viele Zuschauer stirnrunzelnd das Schauspielhaus. Keine Frage, das Stück regt zum Nachdenken an, und die beklemmende Situation von Menschen, die orientierungslos durchs Leben gehen, wird überzeugend dargestellt, aber einige Szenen sind einfach nur verstörend.
Höhepunkt des Abends: die musikalischen Einlagen von Marko Gebbert, der als verschrobener Alleinunterhalter unter anderem „La Paloma“ und Roy Blacks „Bella Bella Marie“ auf der Gitarre zum Besten gibt und der schweren Thematik ein Stück Leichtigkeit verleiht.
Infos zu weiteren Vorstellungen unter: www.theater-kiel.de.
Alle Fotos: struck-foto