„Der Fußball schreibt die schönsten Geschichten“ ist eine der Kicker-Weisheiten, die sich regelmäßig bewahrheitet. Und nicht nur auf dem Rasen: in Kiel zum Beispiel, wenn alle zwei Jahre Hunderte Fans nach den Spielen der DFB-Elf eine Straßenkreuzung zum Jürgen-Klinsmann-Platz machen.
Wer erinnert sich nicht gerne an die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland? Ein Sommermärchen. Ob in den Arenen, vor dem Fernseher oder auf Fanmeilen – alles feierte „Schlaand!“. In Kiel traf man sich zum Mitfiebern in Kneipen, der Forstbaumschule oder der Universität. Der Begriff Public Viewing sollte dank des permanenten Rudelguckens seinen großen Durchbruch feiern.
Auch André Gremmel wollte in seiner Bar „VIVA“ auf einem Fernseher mit Stammgästen die WM verfolgen. Schon zum ersten Spiel war die Szenekneipe an der Kreuzung Olshausenstraße/Knooper Weg gut gefüllt. „Drinnen ging nichts mehr, und so holten spontan einige Gäste aus der Nachbarschaft ihre Fernseher und stellten sie draußen auf der Terrasse auf“, erinnert sich Fußballfan Gremmel. Deutschland gewann 4:2 gegen Costa Rica, und die DFB-Elf wurde bei Bier und anderen Stimmbänder-ölenden Getränken gefeiert. „Schon an diesem Abend regelten später einzelne euphorische Gäste mit Deutschland-Fahne in der Hand den Verkehr auf der Kreuzung – aber ich dachte, das wäre nur ein kurzes Phänomen“, blickt der frühere VIVA-Inhaber zurück.
Fünf Tage später folgte das zweite Spiel – Deutschland gegen Polen. Alle Gäste des WM-Auftakts waren wieder im und vor dem VIVA und hatten gefühlt ihre Familien mitgebracht. „Der gesamte Bürgersteig war dicht – 200 Leute mindestens. Und kurz nach der Halbzeit war plötzlich auch noch die Straße voll“, erzählt André Gremmel. Was war passiert? Die Technik im großen Hörsaal der Uni war ausgefallen und etwa 1.000 Fußball-Fans flüchteten hektisch nach Bildschirmen suchend in die Innenstadt – und kamen am VIVA vorbei. „Der Abend war einfach der Wahnsinn. Deutschland gewann dank einem Last-Minute-Tor mit 1:0, und alles lag sich in den Armen. Plötzlich war die gesamte Kreuzung voller Fußball-Fans, und dort folgte eine Laola-Welle der nächsten“, erklärt der heute 40-jährige Gremmel mit leuchtenden Augen. Langeweile kam keine auf: Wer nicht sang und tanzte, surfte auf im Stau stehenden Linienbussen. So rückte die Polizei an, um die Spontan-Fanmeile aufzulösen – vergebens. „Es kam sogar zu einer Festnahme, aber mittels einer Polonäse wurde die Person aus dem Polizei-Bulli befreit. Aber alles verlief friedlich – bis in die Morgenstunden.“
Auch nach den übrigen Spielen von Klinsis Kickern schallte es ab sofort „Auf die Kreuzung!“ über den Ravensberg. Die Polizei hatte sich auf das neue Phänomen eingestellt und sperrte die mittlerweile als „Jürgen-Klinsmann-Platz“ bekannte Kreuzung rechtzeitig ab. „Ab dem dritten Spiel war die Polizei sehr kooperativ. Dafür habe ich jeden Morgen drei Stunden die Kreuzung gefegt, damit das Müll-Problem gar nicht erst aufkommen konnte.“ Obendrein hatte das Straßenfest vor dem VIVA die noch schönere Art von Gemeinnutzen. Durch die Einnahmen eines Tippspiels wurden nach der WM 500 Euro an die Kinderkrebshilfe gespendet.
„Es waren traumhafte vier Wochen – Freude, Feiern, Fußball“, erinnert sich André Gremmel. Und diese wiederholen sich seitdem alle zwei Jahre. Denn auch zur Europameisterschaft 2008 und zur WM 2010 war die Kreuzung wieder fest in der Hand von Fußball-Fans aller Nationen. Und 2012? Das VIVA gibt es nicht mehr, wurde zum Fotostudio. André Gremmel: „Egal, die Kreuzung wird wieder voll werden. Es gibt eben nur einen Jürgen-Klinsmann-Platz. Und der ist in Kiel.“