Seit anderthalb Jahren lebt Lasse Stolley aus Fockbek bei Rendsburg in den Zügen der Deutschen Bahn. Wie geht das?
Stellen Sie sich vor, Sie wachen jeden Morgen in einer anderen Stadt auf, das sanfte Rattern des Zuges wiegt Sie in den Schlaf, und Ihr Alltag spielt sich zwischen Abteilen und Bahnsteigen ab. Das klingt nach dem Plot eines Abenteuerromans, ist aber die Realität für Lasse Stolley, einen 17-Jährigen aus dem kleinen Ort Fockbek bei Rendsburg. Statt einer Wohnung hat er eine BahnCard 100 und lebt seit eineinhalb Jahren in den Zügen der Deutschen Bahn.
Auf Schienen zu hause
Das Gespräch mit Lasse ist ein Echo von Bahnansagen und Signaltönen. Als ich ihn erreiche, ist der Empfang schlecht – er befindet sich in Saarbrücken und steigt gerade um. „Eigentlich sollte ich jetzt in München sein“, erklärt er amüsiert, „aber ich bin in Saarbrücken gelandet.“ Sein Zug hatte über Nacht fünf Stunden Verspätung. Während andere darüber fluchen würden, nimmt Lasse es gelassen. Er ist es gewohnt, flexibel zu sein und seine Pläne an den Fahrplan der Bahn anzupassen. Seit er sich entschieden hat, in Zügen zu leben, hat Lasse schon mehr als 600.000 Kilometer zurückgelegt – das ist so, als hätte er die Erde 15 Mal umrundet. Alle paar Wochen kehrt er nach Fockbek zurück, zuletzt an Ostern 2024, um seine Familie zu besuchen. Doch seine wahre Heimat sind die Waggons und Sitzreihen, die sich quer durch Deutschland schlängeln.
Die Route seines Lebens
Lasses Reiseziele entstehen spontan. Er hat eine Liste von Orten, die er gern besuchen möchte, und wenn ihn die Laune packt, setzt er sich einfach in den nächsten Zug. Heute ist die Völklinger Hütte in Saarbrücken sein Tagesziel – ein ehemaliges Eisenwerk und UNESCO-Weltkulturerbe.
Die Idee zu seiner Reise kam ihm, als er die Geschichte von Erik Hoffmann sah, der ein Jahr im Zug lebte. Aufmerksam auf seine Geschichte wurde er bereits 2017, als diese in einem TV-Format des Senders Sat.1 ausgestrahlt wurde. Lasse kontaktierte Hoffmann über Facebook.
Zwischen Komfort und Kritik
Für viele klingt Lasses Lebensstil nach einem einsamen Dasein, doch das Gegenteil ist der Fall. Er trifft sich regelmäßig mit Freundinnen und Freunden, einige von ihnen ebenfalls im Besitz einer BahnCard 100, und sie verbringen Zeit in den DB Lounges der Republik. Er genießt die Freiheit, unabhängig von einem festen Ort zu sein, und betont, dass seine Reise nichts mit finanziellen Motiven zu tun hat. Es gehe ihm einzig um das Erleben von Freiheit.
In einem Jahr auf den Schienen hat Lasse viel erlebt. Anfangs schlief er in der Gepäckablage eines 2.-Klasse-Waggons, dessen Abmessungen ihm gerade genug Platz boten. Doch im August 2023 stufte er sein Ticket auf die 1. Klasse hoch. Immerhin 7.714 Euro kostet die BahnCard 100 im Normalpreis der 1. Klasse. Für Unter-27-Jährige kostet sie 5.888 Euro. Das Geld erwirtschaftete sich Stolley durch seine Arbeit als Software-Entwickler, die er während seiner Zeit auf den Schienen bewerkstelligt. Seine Eltern beteiligten sich außerdem finanziell an den Kosten der BahnCard.
Eine mögliche Abschaffung der 1. Klasse sieht Lasse differenziert. Er findet, dass die Menschen die Wahl haben sollten, für mehr Komfort auch mehr zu bezahlen. Die 1. Klasse komplett abzuschaffen, ist aus seiner Sicht keine Lösung. TV-Moderator Louis Klamroth hatte vor einigen Wochen die Diskussion über die 1. Klasse ins Rollen gebracht.
Ein Blick über den Tellerrand
Lasses Abenteuer beschränken sich nicht nur auf Deutschland. Er hat bereits das Interrail-Angebot genutzt, um andere Bahnsysteme kennenzulernen. Besonders beeindruckt hat ihn dabei die Barrierefreiheit und Sicherheit der Strecken in der Türkei – ein deutlicher Kontrast zu den häufigen Kabeldiebstählen entlang der Strecken der DB und damit einhergehenden Verspätungen in Deutschland. In der Türkei seien die Streckenabschnitte beispielsweise besonders gesichert. Dieben falle es somit schwerer, das wertvolle Kupfer der Drähte zu stehlen und zu verkaufen.
Trotz aller Abenteuer, die Lasse bereits erlebt hat, bleibt er bodenständig und teilt sein Leben über soziale Netzwerke wie X (ehemals Twitter). Seine Followerzahl wächst stetig, und immer mehr Menschen erkennen ihn und möchten ein Foto mit dem „Bahn-Nomaden“. Die Deutsche Bahn hat er dabei nicht nur als zuverlässigen Reisepartner schätzen gelernt, sondern auch für ihre vegetarischen Optionen, wie die vegane Currywurst, die zu seinen Lieblingsmahlzeiten zählt. Letztere sei mittlerweile dauerhaft im Sortiment der Bord-Bistros integriert worden.
Sein Gepäck hat Lasse auf das Wesentliche reduziert: Er lebt aus einem 30-Liter-Rucksack. „Dieser Minimalismus gefällt mir“, sagt er. „Man verschwendet keine Zeit mit unwichtigen Dingen.“ Stattdessen sammle er Erfahrungen und Erinnerungen – das Einzige, was auf seiner ungewöhnlichen Lebensreise wirklich zählt.