Natürlich: Kiel ist die schönste Stadt Deutschlands – und doch lohnt sich ein Blick über den Tellerrand. Wir erkunden für Sie die (zweit)schönsten Orte der Bundesrepublik.Tübingen ist eine der bekanntesten Universitätsstädte Deutschlands. Rund ein Drittel der Bevölkerung studiert – und genießt gleichzeitig das mittelalterliche Flair der Stadt am Neckar.
Tübingen ist alt. Sehr alt. Schon um 85 nach Christus machten sich hier die Römer ans Werk, um den Neckar-Limes zu errichten. Schloss Hohentübingen wurde zum ersten Mal im Jahr 1078 urkundlich erwähnt. Tübingen ist aber auch jung. Sehr jung. Mit knapp 40 Jahren ist der Altersdurchschnitt am geographischen Mittelpunkt Baden-Württembergs niedriger als in allen anderen Städten Deutschlands. Tübingen ist Tradition. Tübingen ist aber auch modern. Tübingen ist die Stadt der Gegensätze – und die ziehen bekanntlich magisch an. Rund 100.000 Besucher zählt die Stadt, die rund 40 Kilometer südlich von Stuttgart liegt, pro Jahr. Die Besucher lassen sich einfangen vom Charme der engen Gassen, von den unzähligen historischen Gebäuden im mittelalterlichen Stadtkern und dem Flair einer der bekanntesten Universitätsstädte Deutschlands.
Dabei kommt man sich vor allem an lauen Sommerabenden ein wenig vor wie in der Vorabendserie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“: Es scheint, als ob diese Stadt nur von der jugendlichen Leichtigkeit und bunten Betriebsamkeit der Studierenden getragen wird. Und das hat einen Grund: Rund ein Drittel der knapp 90.000 Einwohner Tübingens besucht die Eberhard-Karls-Universität. Walter Jens, renommierter Rhetorikprofessor, hat die besondere Tübinger Verbindung zur Universität einst so beschrieben: „Köln hat eine Universität, Hamburg hält sich eine Universität, Tübingen ist eine Universität.“ Und so dominieren nicht nur Universitätsgebäude wie die 1482 fertiggestellte Burse, die imposante „Neue Aula“ oder die Universitätsbibliothek das Stadtbild, auch die Kneipendichte und die vielen schon zur Mittagszeit bevölkerten kleinen Straßencafés lassen auf eine lebhafte Studierendenzeit schließen.
Die am 11. März 1477 gegründete Uni zählt zu den ältesten Deutschlands. Hier forschte der Psychiater Alois Alzheimer nach den Ursachen der nach ihm benannten Krankheit, hier begann Dietrich Bonhoeffer, Widerstandskämpfer im Dritten Reich, sein Theologiestudium. Auch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der als wichtigster Vertreter des Deutschen Idealismus gilt, studierte in Tübingen Theologie. Als Dozent wirkte ein gewisser Joseph Ratzinger, heute als Papst Benedikt XVI. weltliches Oberhaupt der katholischen Kirche, an der Eberhard-Karls-Universität. Der Theologe und Reformator Philipp Melanchthon widmete sich in Sichtweite des Neckars dem Studium der Astronomie, Musik, Arithmetik und Geometrie, und der Lyriker Eduard Mörike besuchte das Tübinger Stift. In Tübingen traf Mörike auch auf den Dichter Friedrich Hölderlin, der dem Wahrzeichen der Stadt seinen Namen gab: dem Hölderlinturm. In dem gelben Turm mit spitzem Dach bewohnte Hölderlin von 1807 bis zu seinem Tod am 7. Juni 1843 das Turmzimmer. Heute ist in dem Gebäude, das idyllisch direkt am Neckar liegt, das Hölderlin-Museum untergebracht. Von der Neckarbrücke kommt man über den Zwingel, den Freiraum zwischen innerer und äußerer Stadtmauer, zu dem Turm. Im Sommer genießen hier die Studenten den Blick auf den Neckar und die vorbeiziehenden Stocherkähne.
Tübingen ist eine junge Stadt mit altem Flair und mittelalterlichem Charme.
Diese kleinen Boote, in denen sich die Mitfahrenden gegenübersitzen, werden mit langen Stöcken, den „Stochern“, fortbewegt. Eigentlich eine ruhige, romantische Angelegenheit. Einmal im Jahr aber wird daraus eine wilde Jagd: Das Stocherkahnrennen am zweiten Donnerstag im Juni gehört zu den Höhepunkten des Tübinger Veranstaltungskalenders. Vor allem studentische Verbindungen und Fachschaften wollen mit ihren Stocherkähnen den Sieg und damit ein Fass Bier erringen. Und möglichst nicht verlieren – denn auf den Letzten und die gesunkenen Bootsbesatzungen wartet eine unschöne „Bestrafung“: Vor den Augen zehntausender Zuschauer, die die Neckarinsel säumen, müssen die Verlierer pro Kopf einen halben Liter Lebertran trinken …
Doch nicht nur beim Stocherkahnrennen ist die Neckarinsel ein beliebter Ausflugsort: Unter dem Blätterdach hunderter Platanen lässt es sich im Sommer gut entspannen, von der Insel aus hat man auch die beste Sicht auf den Hölderlinturm und die nicht weniger bekannte Neckarfront: die Häuserzeile entlang der Stadtmauer, die das begehrteste Fotomotiv der Stadt ist. Von dort aus begibt man sich auf einen Rundgang, der auch gut für die Muskulatur ist: Es geht bergauf. Von der beschaulichen Neckargasse geht es hinauf zum Holzmarkt mit Stiftskirche und Georgsbrunnen. Nach einem kleinen Abstecher zum Nonnenhaus, einem der größten Fachwerkhäuser in der Tübinger Innenstadt, wandert man zum historischen Marktplatz mit dem Neptunbrunnen vor dem Rathaus. Das 1435 erbaute Gebäude gehört zu den Höhepunkten einer jeder Tübingen-Tour – nicht nur wegen der berühmten astronomischen Uhr des Astronomieprofessors Johannes Stöffler, die mit zwei der drei Ziffernblätter im Zierturm Datum, Mondphasen und den Stand der Planeten anzeigt. Vom Marktplatz aus entert man dann über kleine Stäffele und steile Rampen das Schloss Hohentübingen: Durch das prächtige Renaissanceportal im Stil eines römischen Triumphbogens geht es in den Innenhof der Bastion, in der zahlreiche Uni-Insitute und -sammlungen untergebracht sind. Vom Schloss Hohentübingen aus hat man einen traumhaften Blick in das Neckar-Tal und auf die historische Altstadt. Nach dem Aufstieg hat man sich eine kleine Pause verdient: Die genießt man am besten bei einem Glas Wein auf dem Marktplatz – denn dabei kann man herrlich eintauchen in diese junge Stadt mit altem Flair und mittelalterlichem Charme. Genießen Sie die Gegensätze!
Christian Robohm