Natürlich: Kiel ist die schönste Stadt Deutschlands – und doch lohnt sich ein Blick über den Tellerrand. Wir erkunden für Sie die (zweitschönsten) Orte des Bundesrepublik.
Langsam schiebt sich das Messegelände am Fenster vorbei, unter mir Schienenrattern. Plötzlich ein dumpfes Knacken aus den Lautsprechern der Regionalbahn. „Nächster Halt – Leipzig“, tönt eine hohe Frauenstimme. Und eine männliche Stimme brummt wenig später: „Hobtbahnhouf! Ändschdatiön, alles naus hubben!“ Ich lächle und denke: „Du bist zu Hause.“ Mein Freund Thomas indessen, der mich das erste Mal nach Sachsen begleitet, scheint verwirrt und schaut mich fragend an. Ich erkläre ihm: „L.E. ist definitiv eine Reise wert, wenn man keine Angst vor kleinen Sprachbarrieren hat.“ „L.E.?“ Er runzelt die Stirn. „So wird Leipzig liebevoll von seinen Einwohnern genannt, in Anlehnung an L.A. – Los Angeles.“
Wibke und Thomas; Foto: Wibke Freund
Um meinem norddeutschen Freund meine ehemalige Heimat so schmackhaft wie möglich zu machen, kommt er in den Genuss einer persönlichen Sightseeing-Tour. Wir schlendern vom Bahnhof zu Fuß in Richtung Altstadt. Unser erstes Ziel ist die Thomaskirche. Sie wurde im 12. Jahrhundert erbaut und hat eine beeindruckende Geschichte. 1409 wurde hier die Universität Leipzig gegründet, und Martin Luther predigte 1539 zur Einführung der Reformation. Außerdem singt hier seit fast 800 Jahren der weltweit bekannte Thomanerchor, ein Knabenchor. Der gotische Bau steht seinen Besuchern stets offen und beherbergt zudem die letzte Ruhestätte von Johann Sebastian Bach. Dieser war von 1723 bis 1750 Leiter des Thomanerchores, und ihm zu Ehren veranstaltet Leipzig bis heute das jährliche Bachfest.
Bereits in Sichtweite der Thomaskirche liegt der Marktplatz. Andächtig schreiten wir über die weite Fläche und bewundern das Alte Rathaus, das sich an der Ostseite erstreckt. Es wurde im 14. Jahrhundert errichtet und zählt heute zu den bedeutendsten Bauten der Renaissance in Deutschland. Kaum zu glauben, dass es Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erbauung des Neuen Rathauses am Martin-Luther-Ring beinahe abgerissen worden wäre. In letzter Sekunde entschied sich die Stadt für die Erhaltung. Heute beherbergt das Alte Rathaus das Stadtgeschichtliche Museum.
KIELerLEBEN vor dem Eingang von Auerbachs Keller zusammen mit Mephisto und dem alten Faust; Foto: Wibke Freund
An dessen Rückseite liegt der Naschmarkt, auf dem früher Obst und Gemüse verkauft wurde. In der Mitte des Platzes befindet sich die im 17. Jahrhundert von Kaufleuten als Versammlungsort erbaute Alte Börse. Ich deute auf die Statue des jungen Johann Wolfgang von Goethe, die vor dem kleinen Barockbau steht. „Goethe kam 1765 für ein Jurastudium nach Leipzig“, erzähle ich Thomas. „Er war von der damals schon modernen und weltoffenen Stadt ganz angetan.“ In seiner Tragödie „Faust“ widmete er ihr eine Szene, die in Auerbachs Keller spielt, der bekanntesten und zweitältesten Gaststätte Leipzigs. Aus der Szene stammt das berühmte Zitat: „Mein Leipzig lob ich mir! Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.“ Goethe verbrachte während seines Studiums viel Zeit in Auerbachs Keller, und genau auf diesen richtet sich auch der Blick der Statue.
„Wir sind nicht zum ,Leipziger Allerlei‘-Essen nach L.E. gekommen, also lass uns weiter“, sage ich augenzwinkernd, als ich Thomas’ hungrigen Blick auffange. Wir bummeln zum „Uniriesen“. Das Hochhaus hat die Form eines aufgeklappten Buches und gehört zur Universität, daher auch sein Spitzname „Weisheitszahn“. Mit dem Fahrstuhl geht es 142,5 Meter in die Höhe. Vom Dach aus bietet sich ein atemberaubender Panoramablick über die gesamte Stadt. Unter uns liegt die Nikolaikirche, von der damals die friedlichen Montagsdemonstrationen gegen das DDR-Regime starteten. Dahinter sehen wir den mächtigen Hauptbahnhof und das riesige Tropenhaus des Leipziger Zoos. Ein Stück nach links eröffnet sich uns der Blick auf das Neue Rathaus, welches im Stil des Historismus erbaut wurde und ein wenig wie ein Schloss aussieht. Daneben das majestätische Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts und die Trabrennbahn. Noch etwas weiter links erkennen wir in einiger Entfernung das Völkerschlachtdenkmal und die St.-Alexi-Gedächtniskirche zur Russischen Ehre. Und wahnsinnig viel Grün, überall Grün.
„Eines sollte man in Leipzig auf jeden Fall gemacht haben: Straßenbahn fahren.“
Nachdem wir wieder Leipziger Pflastersteine unter den Füßen haben und zwischen Oper und Gewandhaus auf dem Augustusplatz stehen, sage ich zu meinem ortsfremden Begleiter: „Eines sollte man auf jeden Fall gemacht haben, wenn man in Leipzig ist.“ Bestimmt schiebe ich ihn in Richtung Straßenbahn-Gleise und dann in den letzten Wagen der Nummer 15, Richtung Meusdorf. „Stell dich ganz nach hinten und halt dich gut fest!“ Das schrille Klingeln der in Leipzig sogenannten „StraBah“ ertönt, die Türen schließen – und los geht die Fahrt. Die Wagen zwängen sich ihren Weg durch schmale Gassen, enge Kurven, vorbei an alten Stadtvillen und geben auf freier Strecke richtig Gas. Was für ein Spaß, bereits auf meinem früheren Schulweg war Straßenbahn fahren für mich ein kleines Highlight.
Acht Haltestellen später erhebt sich das kolossale Völkerschlachtdenkmal neben uns 91 Meter in die Höhe. Es steht unweit des ehemaligen Kommandostandes Napoleons inmitten des Schlachtfeldes der Völkerschlacht um Leipzig im Jahre 1813. Schon der Weg zum Eingang des größten Geschichtsmahnmals Europas lässt uns andächtig werden. Die Friedenshüter und Totenwächter blicken mit halb geschlossenen Augen auf uns herab. Als wir die ersten Stufen bis zur Krypta erklommen haben, entdecken wir beim Blick nach oben die gewaltige Kuppel. Das Licht fällt mystisch auf die im Kreis stehenden trauernden Riesen, und wir fühlen uns klein und verloren zwischen ihnen. Die Stille mochte ich schon als Kind, und egal wie oft ich auch hier war, die Ehrfurcht bleibt. Dennoch machen wir uns weiter daran, die 364 Stufen zur oberen Plattform zu erklimmen. Es ist ein kleines Abenteuer, die schmalen Wendeltreppen hinaufzusteigen, dafür werden wir aber auch mit einem fantastischen Blick auf Leipzig und Umland belohnt.
Zurück in der Innenstadt, kommen wir zu der Erkenntnis: „L.E. ist nicht an einem Tag zu erkunden!“ Also lassen wir uns im Kaffeehaus verwöhnen. Auch mein Freund freut sich auf unseren nächsten Besuch in Sachsens heimlicher Hauptstadt und bestellt uns mit einem freundlichen „Moin, Moin!“ zwei Leipziger Lerchen. Das süße, runde Gebäck, dessen Name an die früher in Leipzig als kulinarische Delikatesse verzehrten Singvögel erinnert, schmeckt herrlich. Und bis zum nächsten Mal klappt es dann auch mit dem Dialekt.
Schon gewusst?
Leipzig hat viele Persönlichkeiten hervorgebracht, wie zum Beispiel Gottfried Wilhelm Leibniz und Richard Wagner. Ebenso verbrachten hier Felix Mendelssohn Bartholdy oder Friedrich Schiller einen Teil ihres Lebens. Noch immer kann man auf ihren Spuren wandeln und den Duft der Geschichte atmen.
Wibke Freund